Frankreich: Verunsicherte Großmacht

Frankreich: Verunsicherte Großmacht
Frankreich: Verunsicherte Großmacht
 
Im Mai/Juni 1940 stand Frankreich vor dem militärischen Zusammenbruch. Ein großer Teil des Landes wurde von deutschen Truppen besetzt. Die Dritte Republik endete in der militärischen Niederlage. Damit hatten sich die Befürchtungen derer in Frankreich bestätigt, die den Versailler Vertrag als unzureichend erachtet hatten, weil er das Problem der französischen Sicherheit vor Deutschland nicht lösen konnte. Die viel beschworene demographische (40 Millionen Franzosen, 70 Millionen Deutsche) und wirtschaftliche Unterlegenheit Frankreichs war 1940 manifest geworden, als Deutschland unter nationalsozialistischer Führung sein Potenzial in militärische Gewalt umsetzte und gegen Frankreich richtete.
 
 Französisches Sicherheitsdenken
 
Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages 1919 und erst recht nach dem für Frankreich negativen Ausgang der Ruhrbesetzung 1923 war aus französischer Sicht das wichtigste Ziel verfehlt, das man aufgrund der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges verfolgte: Die angestrebte nationale Sicherheit stellte sich nicht ein. Während der Friedenskonferenz wurde Frankreich von den USA und Großbritannien zu verschiedenen Kompromissen gezwungen, die es nach französischer Auffassung verhinderten, dass der Versailler Vertrag das Ungleichgewicht zwischen Frankreich und Deutschland auszugleichen vermochte. Ein solcher Ausgleich schien bei Kriegsende nicht nur deswegen bitter nötig, damit von Deutschland nicht wieder eine Gefahr ausginge, sondern auch, weil Frankreich nach dem Krieg, der sich auf dem Boden seiner bedeutendsten Wirtschaftsregion zerstörerisch abgespielt hatte, ausgelaugt und erschöpft war. Definitiv blieb das französische Verlangen nach Sicherheit unerfüllt, als sich zeigte, dass die USA den Versailler Vertrag nicht ratifizieren würden und auch die vorgesehene angloamerikanische Sicherheitsgarantie nicht zustande kam. Obwohl es einen Kern an gemeinsamen Interessen der Siegermächte gab, löste sich die Weltkriegsallianz zur Enttäuschung Frankreichs auf. Da es nun ganz und gar auf die Karte der eigenen Militärmacht setzte und hochgerüstet als kontinentaleuropäische Führungsmacht operierte, die das Deutschland der Weimarer Republik niederhalten wollte, befand es sich bald in einer isolierten Stellung und musste sich den Vorwurf des Militarismus gefallen lassen. Das zwangsweise abgerüstete Deutschland dagegen passte bald wesentlich besser als Frankreich zu den angloamerikanischen Vorstellungen einer Friedensordnung, die auf wirtschaftlicher Kooperation beruhen sollte. Zudem vermochte Deutschland trotz des Verlusts großer Teile seiner Eisenerz- und Kohleressourcen wieder verhältnismäßig rasch seine Schwerindustrie anzukurbeln und Frankreich abermals mit geballter Wirtschaftskraft entgegenzutreten, die seit 1924 zudem noch durch Milliardenkredite aus den USA abgestützt war.
 
In Frankreich dagegen, das aus dem Ersten Weltkrieg als Schuldnerland hervorgegangen war, machte sich die kostspielige Militärpolitik in Gestalt einer Schwäche des Franc bemerkbar, sodass Frankreich ebenfalls nach amerikanischen Krediten rief und sich auf diese Weise zu einer Umorientierung seiner Sicherheitspolitik im Sinne angloamerikanischer Kooperationskonzepte gezwungen sah. Einschneidend für das französische Sicherheitsdenken war, dass Frankreich mit dem Dawesplan 1924 und dem Vertrag von Locarno 1925 das Recht zu militärischen Sanktionen im Fall einer deutschen Verletzung von Bestimmungen des Versailler Vertrags und damit die bis 1923 praktizierte Möglichkeit zu offensiver Sicherheitspolitik einbüßte. Deutschland befand sich auf dem Weg zurück zur Gleichberechtigung, wodurch es seine Überlegenheit gegenüber Frankreich wiederherstellte. Daran konnten weder die Entspannungspolitik von Aristide Briand, dem kongenialen Kollegen des deutschen Außenministers Gustav Stresemann, etwas ändern noch die neue Stärke, die nach der Erholung des Franc in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre von Ministerpräsident Raymond Poincaré ausging. Als Konsequenz bildete sich in Frankreich eine durch und durch defensive Mentalität heraus, eine Selbstlähmung, die in das von manchen Historikern so bezeichnete Dekadenzsyndrom der Dreißigerjahre mündete, als die französische Gesellschaft insgesamt von Immobilität und Verkrustung geprägt erschien. Das Defensivdenken prägte das französische Konfliktverhalten bis in den Zweiten Weltkrieg hinein. Nachdem man die Rheinlinie mit ihren Brückenköpfen eingebüßt hatte, begab man sich in den trügerischen Schutz der Maginotlinie, der Festungs- und Verteidigungsanlage, die einen deutschen Angriff abprallen lassen sollte. Hitlers Befürchtung vom Februar 1933, die Phase des »Aufbaus der Wehrmacht« sei die »gefährlichste Zeit«, war unbegründet. Sie basierte auf der Annahme, Frankreich werde »über uns herfallen«, wenn es »Staatsmänner« hat.
 
 Innenpolitisch zerrissen — außenpolitisch gelähmt
 
Wie überall wirkte sich die Weltwirtschaftskrise als ökonomisch-politische Doppelkrise auch auf die Politik Frankreichs und seine Stellung in Europa negativ aus. Infolge seines immer noch beträchtlich großen Agrarsektors wurde Frankreich von den Auswirkungen der Krise später erreicht als vollindustrialisierte Länder. Dafür aber machte sich die Depression umso länger während der gesamten Dreißigerjahre bemerkbar. Die kleineren und mittleren Unternehmen und Banken wurden nachhaltig vom Exportrückgang und von der anhaltenden wirtschaftlichen Flaute getroffen. Die hohe Arbeitslosigkeit trug ebenso zu einem angespannten innenpolitischen Klima bei. Den Staatsfinanzen, ohnehin defizitär, war keine Erholung vergönnt. Hinzu traten Veränderungen im politischen Bereich. International begann sich die Versailler Ordnung mehr und mehr aufzulösen. Frankreich konnte nicht verhindern, dass die Reparationen gestrichen wurden und Deutschland Ende 1932 auch die prinzipielle Gleichberechtigung auf dem Rüstungssektor erreichte. Innenpolitisch kam es zu verstärkter Polarisierung der politischen Lager. Anders als in Großbritannien schwand die Integrationskraft des politischen Systems bedrohlich. Sichtbares Zeichen dafür war die zunehmende Gewaltbereitschaft der extremen politischen Linken und Rechten. Zwischen den Kommunisten und faschistischen Gruppen kam es seit 1932 wiederholt zu Straßenschlachten. Die Faschisten veranstalteten im Februar 1934 einen Marsch zum Palais Bourbon, dem Sitz des Parlaments. Unsichere parlamentarische Mehrheiten führten dazu, dass es zwischen 1932 und 1940 16 Kabinette gab. 1936 kam es zur Bildung einer Volksfront, in der sich die Partei der linken Mitte, die Radikalsozialisten, die Sozialisten und die extremen Linken, die Kommunisten, zusammenschlossen. Die Volksfront gewann die Wahlen 1936 mit den Sozialisten unter Léon Blum als stärkster Kraft, während die Radikalsozialisten Verluste erlitten. Die Sitze der Kommunisten wuchsen von 12 auf 72 an, die Kommunisten traten aber nicht in die von Blum gebildete Regierung ein, sondern begnüg- ten sich mit deren Tolerierung. Arbeits-, sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Regierung stand die Kapitalflucht der besitzenden Schichten ins Ausland gegenüber. Inflation und Haushaltsdefizit wurden nicht nur nicht beigelegt, sondern durch Rüstungsausgaben noch verstärkt, die angesichts der deutschen Aufrüstung erforderlich erschienen. Als sich die Regierung daraufhin gezwungen sah, einzelne sozialpolitische Maßnahmen zurückzunehmen, erlitt sie einen deutlichen Vertrauensschwund bei der Arbeiterschaft.
 
Das bürgerliche Lager befand sich ohnehin auf Distanz, und gelegentlich war der Ruf »Lieber Hitler als Blum!« zu hören. Gemeint war damit das Verlangen, mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu einem Ausgleich unter weitgehenden Zugeständnissen zu kommen. Die Regierung tat auch nichts, um den 1935 abgeschlossenen und 1936 ratifizierten französisch-sowjetischen Beistandspakt mit Leben zu erfüllen. Vorrangig hing dies damit zusammen, dass sich Frankreich immer stärker an Großbritannien anlehnte und dadurch im Ergebnis akzeptierte, dass Großbritannien die inhaltliche Ausrichtung der Politik gegenüber Deutschland bestimmte. Großbritannien aber war ein erklärter Gegner eines Bündnisses mit der Sowjetunion und setzte auf Verhandlungen mit Deutschland sowie mit Japan und Italien. Vor dem Hintergrund andauernder innenpolitischer Instabilität, verschiedener Streikwellen und gewaltsam verlaufender innerer Kämpfe 1937/38 büßte Frankreich jegliche außenpolitische Gestaltungsmöglichkeit ein.
 
Prof. Dr. Gottfried Niedhart, Mannheim
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Frankreich: Von der Résistance zur Vierten Republik

Universal-Lexikon. 2012.

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